Translation in Zeiten des Umbruchs
Wir erleben Zeiten des Umbruchs, Zeiten, die durch multiple Krisen, gewalttätige Konflikte und Kriege geprägt sind. Die beschleunigte Digitalisierung und der technologische Wandel haben viele Bereiche der Wissenschaft und des Berufs, aber auch der Gesellschaft stark verändert. Welche Antworten bietet die Translationswissenschaft auf brennende gesellschaftsrelevante Fragen in Zeiten multipler Krisen und Konflikte?
Welchen Beitrag kann die Translationswissenschaft als kritische Gegenwartsdisziplin leisten, um die heutigen gesellschaftlichen Veränderungen zu reflektieren? Im Juni 2024 begegneten sich Autor:innen im Literaturhaus Graz, um historische, gesellschaftspolitische und technologische Aspekte des Übersetzens und Dolmetschens zu diskutieren. Den Anlass dafür baten sechs Monografien, die in den Jahren 2023 und 2024 von Forschenden und Lehrenden des Instituts für Translationswissenschaft an der Universität Graz veröffentlicht wurden. Diese Werke illustrieren nicht nur die große inhaltliche Bandbreite, sondern auch die gesellschaftliche Relevanz unserer Disziplin. Jedes Buch bereichert auf seine Weise den interdisziplinären Dialog und verdeutlicht somit die Wechselwirkungen zwischen Translation, Gesellschaft und Wissenschaft. Die Gepräche wurden von Bilgin Ayata moderiert. Die Veranstaltungsorganisation übernahmen Raquel Pacheco Aguilar, Michael Tieber und Manuel Lardelli.
Weitere Informationen: Translation in Zeiten des Umbruchs - Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft (uni-graz.at)
Translation und digitale Disruption zwischen Professionalisierung und wissenschaftlicher Reflexion
Translationskulturen im Umbruch
Translationspolitik in gesellschaftlichen Spannungsfeldern
Nadja Grbić und Rafael Schögler im Gespräch mit Raquel Pacheco Aguilar
Wir treffen Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Nadja Grbić und Assoz. Prof. Mag. Dr. Rafael Schögler an einem sonnigen Morgen am Institut für Translationswissenschaft der Universität Graz.
Nadja Grbić studierte Sprachwissenschaft, Slawistik und Translationswissenschaft und war maßgeblich an der Implementierung des Lehrplans für Gebärdensprachdolmetschen beteiligt. In ihrem Buch Gebärdensprachdolmetschen als Beruf. Professionalisierung als Grenzziehungsarbeit. Eine historische Fallstudie in Österreich, erschienen 2023 bei transcript, untersucht sie, wie der Beruf des Gebärdensprachdolmetschens konstruiert wurde.
Rafael Schögler studierte Soziologie und Translationswissenschaft auch an der Universität Graz. Nach verschiedenen Forschungsaufenthalten in Großbritannien, Deutschland oder Frankreich habilitierte er im Fach Translationswissenschaft. Sein Buch Die Politik der Buchübersetzung. Entwicklungslinien in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach 1945, erschienen 2023 bei Campus, widmet sich der Frage, wie durch Translation wissenschaftliches Wissen in den Geistes- und Sozialwissenschaften erzeugt wird.
Raquel Pacheco Aguilar: Frau Grbić, Ihr Buch ist das Ergebnis einer langjährigen Forschung, die am Institut für Translationswissenschaft der Universität Graz beheimatet ist. Im Hinblick auf die Strategie unserer Bildungsinstitution, die unter dem Motto „Universität ohne Grenzen“ zusammengefasst wird, inwiefern trägt Ihre Forschung dazu bei, die Grenzen der Translationswissenschaft zu verschieben bzw. neu zu denken?
Nadja Grbić: Im Fokus meiner Forschung stand seit langem der Begriff der Grenze bzw. der Grenzziehung und Grenzarbeit. Als ich begann darüber nachzudenken, wie sich die Professionalisierung des Gebärdensprachdolmetschens gestaltet hat, bin ich immer wieder auf binäre Unterscheidungen gestoßen, wir und sie, das Gleiche und das Andere. Durch eine Kollegin aus der Soziologie, die interessanterweise auch meine Mitbewohnerin war, bin ich auf das Konzept ‚boundary work‘ gestoßen. Dieses Konzept stammt ursprünglich aus der Wissenschaftsforschung und wurde vom US-amerikanischen Soziologen Thomas F. Gieryn entwickelt. Gieryn interessierte sich dafür, wie Wissen konstruiert und kategorisiert wird. Er fragte sich, warum bestimmtes Wissen als wissenschaftlich oder als nicht wissenschaftlich betrachtet wird. Er fragte sich auch, warum dieses wissenschaftliche Wissen seine kognitive Autorität erhalten hat und was für Machtprozesse diesbezüglich am Wirken sind. Was mir an diesem Ansatz gefallen hat, ist, dass Grenzen bei ihm, aber auch später bei Michelle Lamont, die im Zusammenhang mit der Herausbildung sozialer Ungleichheit intensiv dazu gearbeitet hat, nicht als etwas Fixes angesehen werden, sondern als etwas Dynamisches. Das heißt, sie sind flexibel, sie ändern sich im Laufe der Zeit, die Grenzen werden konstruiert, aber sie werden auch überbrückt, sie werden poröser oder undurchlässiger gemacht. Man streitet um sie, man verhandelt sie, und manchmal löst man sie auf. Und das hat zu meinem Zugang sehr gut gepasst.
Mein Beitrag ist vielleicht, das Konzept des Berufs in der Translationswissenschaft neu zu denken. Wenn man sich die Forschung anschaut, zum Beispiel die Forschung zum Kommunaldolmetschen oder die Forschung zum Gebärdensprachdolmetschen, wurde Beruf und Professionalisierung über viele Jahrzehnte als etwas tatsächlich klar Definierbares und Abgrenzbares wahrgenommen. Man hat ein enges Handlungs- und Verhaltenskorsett geschnürt und dadurch konnte man ganz klar zwischen professionell und nicht professionell differenzieren. Aber diese binäre Differenzierung entspricht der empirischen Realität nicht, weil unsere Welt einfach komplexer und fluider ist und die Dinge stärker miteinander zusammenhängen. Was ich dann versucht habe, ist darüber nachzudenken, was für Möglichkeiten sich bieten, um translatorische Berufe anders zu denken, fluider.
Raquel Pacheco Aguilar: Herr Schögler, Ihr Buch Die Politik der Buchübersetzung. Entwicklungslinien in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach 1945 ist ebenso das Ergebnis einer Forschung, die am Institut für Translationswissenschaft angesiedelt ist, wie trägt Ihre Forschung dazu bei, die Grenzen der Translationswissenschaft zu verschieben bzw. neu zu denken?
Rafael Schögler: Ich kann nicht mit dem Grenzbegriff als Schlüsselkonzept agieren, so wie du es gemacht hast, Nadja. Aber ich glaube, es sind auch einige Grenzverschiebungen bei mir wichtig. Wahrscheinlich ist dafür mein Background auch nicht ganz unbedeutend, da ich meine Dissertation in der Soziologie und dann danach die Habilitation hier im Institut für Translationswissenschaft geschrieben habe. Da hatte ich natürlich immer einen sehr soziologischen Blick auf Translation, habe aber dann zugleich versucht zu verstehen, inwiefern Translation von Bedeutung ist, um etwas selbst zu verstehen, und inwiefern ein ganz spezifisches Verständnis von Translation entwickelt wurde, wenn man sich dieser Praxis im wissenschaftlichen Feld widmet. Und ich habe versucht eine disziplinäre Grenze ein wenig zu verschieben und eine weitere Vertiefung des soziologischen Blickes auf Buchübersetzungen zu ermöglichen, gerade im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften. In vielen soziologischen Forschungen in dem Bereich werden vielleicht am ehesten noch die sozioökonomischen oder soziopolitischen Kontexte beachtet, um zu verstehen, inwiefern sich Buchübersetzungen entwickelt haben. Und ich habe aber eher den Fokus darauf gelegt, inwiefern spezifische wissenschaftliche und hochschulpolitische Entwicklungen, von Bedeutung sind, für die translatorische Praxis einerseits und andererseits umgekehrt auch, wie die translatorische Praxis diese Felder dann beeinflussen konnte.
Das heißt einerseits, wie hat sich das Hochschulwesen im deutschsprachigen Raum, vor allem in Deutschland, entwickelt und wie hängt das zusammen mit der Buchübersetzungsproduktion. Und dann aber andererseits auch inhaltliche Umbrüche, also inwiefern hängen auch inhaltliche, methodische, theoretische Veränderungen im Bereich der Philosophie, Soziologie, Psychologie zusammen mit der Übersetzungspraxis, die man sehr prototypisch dann am Beispiel Buch festhalten kann.
Ein zweiter Aspekt, der, glaube ich, auch sehr stark durch den Schwerpunkt hier am Institut geprägt ist, ist diese Verbindung von historischem Denken mit gegenwärtigen Bedingungen. Also ich gehe nicht weit in die historischen Zeiten hinein, sondern arbeite ja ab 1945. Aber ich versuche trotzdem eben diese historischen Gegebenheiten zu betrachten, um zu verstehen, was für Auswirkungen das eigentlich auf gegenwärtige Übersetzungspraktiken im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften hat.
Raquel Pacheco Aguilar: Frau Grbić, unsere Universität setzt sich zum Ziel, „systemische Lösungen für brennende gesellschaftsrelevante Fragen anzubieten“. Welche brennenden gesellschaftsrelevanten Fragen werden im Rahmen ihrer Forschung thematisiert? Welche Lösungen bietet Ihre Forschung an?
Nadja Grbić: Na ja, sich mit Gebärdensprache und Gehörlosigkeit auseinanderzusetzen, war für mich immer schon eine brennende gesellschaftliche Frage. Das ist Jahrzehnte her und damals waren Gehörlose völlig unsichtbar und die Vorstellung von Gehörlosigkeit und Gebärdensprache war auch sehr trivial. Gehörlosigkeit wurde eher aus medizinischer Perspektive betrachtet, also Gehörlose als Menschen mit einem Defizit, einem Fehler, der repariert werden muss. Von Gebärdensprache hatte man die Vorstellung, dass das eine internationale, künstlich erschaffene Sprache für Behinderte sei, damit sie miteinander kommunizieren können oder man mit ihnen.
Was erstaunlich und auch eigentlich ein bisschen erschütternd ist, ist, dass sich über diese Jahrzehnte, in denen ich mich damit befasse, zwar oberflächlich einiges geändert zu haben scheint. Man sieht mehr Gebärdensprache, zum Beispiel gibt es im ORF Dolmetschungen. Gehörlose schämen sich auch nicht mehr auf der Straße zu gebärden. Es wird auch Forschung dazu betrieben, man kann ÖGS bei uns studieren. Und trotzdem halten sich noch viele Mythen. Also ich glaube, dass viele Menschen nach wie vor der Ansicht sind, Gebärdensprache sei keine richtige, komplexe Sprache, sondern eine wörtliche Übersetzung des Deutschen. Oder Gebärdensprache sei international. Ich hoffe, dass meine Arbeit dazu beiträgt, diese Mythen – steter Tropfen höhlt den Stein – immer weiter auszuhöhlen und zu zeigen, dass Gebärdensprachen eine starke identitätsstiftende Komponente der Gehörlosenkultur sind. Denn Gehörlose nehmen sich eben nicht nur als Gemeinschaft von Behinderten, sondern vor allem als Kulturgemeinschaft wahr. Das ist das eine. Das andere ist auch aufzuzeigen, wie diese Unterdrückung und Diskriminierung von Gehörlosen nicht nur in der ferneren Geschichte stattgefunden hat. Ich habe mich mit dem 19. Jahrhundert befasst, mit der Habsburger Monarchie und dem Gebärdensprachdolmetschen in der Zeit bis zur Gründung des Gebärdensprachdolmetscher*innenverbandes im Jahr 1998. Und ich habe gesehen, dass in unterschiedlichen historischen Phasen ganz unterschiedliche Formen der Unterdrückung, der Diskriminierung und der Disziplinierung Gehörloser stattgefunden haben.
Und wichtig ist es in dem Zusammenhang, stets einen reflektierten Zugang zur Forschung und zur Praxis zu haben. Also sowohl in der Forschung als auch in der Lehre einen partizipativen Zugang zu pflegen, also Gehörlose einzubeziehen, um nicht den Blick zu verlieren für das, was gerade vonstatten geht und notwendig ist.
Raquel Pacheco Aguilar: Herr Schögler, welche Fragen möchten Sie mit Ihrer Forschung beantworten? Welche Lösungen bieten Sie an?
Rafael Schögler: Ich glaube, die Gesellschaftsrelevanz ergibt sich bei meiner Forschung aus der sehr übergeordneten Frage: Welches Wissen wird in unserer Gesellschaft eigentlich als relevant anerkannt und wie ist Translation dafür von Bedeutung? Und ich glaube, es gibt gewisse Aspekte, die recht bekannt sind. Zum Beispiel, dass mit Translation Anerkennung einhergeht und dass eben gerade diese Mechanismen der Anerkennung verwendet werden können, um gewisse Ideen zu platzieren, um neue Methoden und neue Begriffe zu platzieren. Übersetzungen können auch dabei helfen, ganze Denkschulen zu etablieren und gegebenenfalls breiter in den öffentlichen Diskurs Einzug zu finden. Ich glaube, dass es ist diese ganz breite Bedeutung, die ich versuche zu erörtern. Spezifischer geht es mir dann darum, was eigentlich Übersetzung in den Geistes- und Sozialwissenschaften ausmacht.
Und mich interessieren dabei einige dahinter liegende Faktoren. Der eine ist jener der Politik der Buchübersetzung, den man irgendwie mit verschiedensten Fragen aufdecken könnte: Also was wollen unterschiedliche Akteur*innen eigentlich mit ihren Übersetzungen erreichen? Konkreter: Was bedeutet es also für Verlage, Übersetzungen strategisch einzusetzen, um ihr Programm zu entwickeln? In den 1960er, 1970er Jahren haben deutschsprachige Verlage sehr viele neue Buchreihen ins Leben gerufen und um diese Buchreihen zu etablieren, wurde auf sehr, sehr viele Übersetzungen gesetzt, so 30-40% der Werke waren Übersetzungen, obwohl im Durchschnitt nur circa 12% der Werke Übersetzungen sind, wenn man sich den Buchmarkt allgemeiner anschaut. Man kann dann aber auch konkreter fragen: Was bedeutet es für unterschiedliche Akteurstypen, sich der Buchübersetzung zu widmen, also dient diese, zum Beispiel, um sich als Expert:in für eine Methode, für eine Theorie etc. in der Disziplin zu positionieren, aber, und das ist, glaube ich, wieder dieser historisch spannende Aspekt: Können sie diese Übersetzungen vielleicht auch dazu nutzen, sich politisch zu repositionieren? Gerade bei Persönlichkeiten, bei denen ihre politische Position während des nationalsozialistischen Regimes zumindest fragwürdig war – also das ist dann auch nicht immer klar herauszuarbeiten – ich glaube das ist ein ganz wichtiger Faktor, der diese Gesellschaftsrelevanz hier nochmal in den Vordergrund rückt. Ganz abstrakt verstanden geht es mir also darum zu verstehen, wie, wann, wo Translation zu einer strategisch eingesetzten Praxis wird und wie diese dann auch sehr politische Ausrichtung von Translation einen Effekt auf das wissenschaftliche Feld einerseits hat. Und dann aber eben auch welchen Effekt diese dann auf das jeweilige Verständnis von Translation haben, also inwiefern verändert die Art und Weise wie übersetzt wird, was übersetzt wird, wer übersetzt, wann auch in verschiedenen Prozessen übersetzt wird, die darüber liegende Translationskultur, die darüber liegenden Normen, Verständnisse, Umgangsformen von Translation und damit einhergehend auch wieder zurückkehrend diese Frage, welches Wissen wird eigentlich als relevant angesehen, wenn es um Translation geht und inwiefern agiert Translation dabei eben als eine formende Kraft?
Raquel Pacheco Aguilar: Wir sehen in den Antworten, dass es bestimmte Parallelismen zwischen beiden Forschungsprojekten bestehen. Herr Schögler, Sie haben das bereits angesprochen, in beiden Werken geht es um die Beziehung zur Vergangenheit, eine Beziehung, die auch wichtig für die Gegenwart ist. Aber auch beide Werke versuchen, die Position der Translator*innen als Akteur*innen bzw. der Translation als Produkt in einem sozialen Feld zu reflektieren, sei es im Feld des Gebärdensprachdolmetschens oder der Buchübersetzung in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Beide Bücher widmen sich daher der Translationspolitik. Ich bedanke mich für Ihre Antworten.