Die Sprache
Über den Eigensinn der ungarischen Sprache – Eine Liebeserklärung
Von Wilhelm Droste
Keine Sehenswürdigkeit Ungarns ist so befremdend wie der Klang und das rätselhaft schlaue Innenleben der ungarischen Sprache. Gebäude, Siedlungen und Städte erinnern an die verschiedensten europäischen Muster, landschaftlich sucht man vergebens nach unfaßlichen Sensationen. Die Sprache aber ist auf erschütternde Art einmalig. Allein schon ihr Klang ist verblüffend und fremd, eine echte Hörenswürdigkeit. Das Ungarische kann noch so viele Fremdwörter in sich aufnehmen, es wird dennoch ein sonderbarer Einzelgänger in Europa bleiben, da helfen auch die sprachlichen Verwandtschaften zum Finnischen und Estnischen wenig. Das Land ist sprachlich einsam. Selbst Bezeichnungen, die international ähnlich klingen, fallen auf Ungarisch hoffnungslos exotisch aus. Ein Restaurant heißt étterem, ein Theater színház, der Bahnhof gar pályaudvar. Auch bei einem so gängigen Wort wie Revolution brät sich das Ungarische eine höchsteigene Sonderwurst. Sie heißt hier forradalom, aus dem Verb forrni gebildet, das kochen, sieden, wallen, gären und brausen bedeutet. So klingt der umstürzende Vorgang gleich erheblich vollblütiger als in der reserviert lateinischen Fassung.
Oft sind es gerade übernommene Wörter, die das ungarische seinen strengen Klanggesetzen so eigenwillig unterwirft, daß man in ihnen nichts Vertrautes mehr wiederfindet. Wer erkennt schon im spenót den Spinat, im muszáj das "es muß sein", im blöffölni bluffen, oder, noch versteckter, im vigéc den Handelsvertreter, der sich wohl auch an manch ungarischer Tür mit der deutschen Frage "Wie geht's?" vorzustellen pflegte. Rettet ein Wort bei seiner Magyarisierung seinen Originalklang, dann spielen die Buchstaben um so mehr verrückt. So verwandelt sich zum Beispiel Jazz ungarisch in dzsessz, ohne den geringsten Schaden dabei zu nehmen.
Grammatisch erweckt das Ungarische den Eindruck, sich mit dem ganzen Trotz des Einzelkindes von europäischen Sitten abzuwenden. Oft endet ein ungarischer Satz in der Wortstellung liebend gern dort, wo ein deutscher etwa beginnen würde. Johannes Müller wird ungarisch zu Molnár János, die Frau des Johannes Müller kann noch so sehr Elsbeth heißen, offiziell wird sie ganz schlicht, patriarchalisch und kompakt zu Molnár Jánosné. Auch die Zeit muß sich eine ungarische Verkehrung gefallen lassen. Aus dem 12. April 1896 wird ungarisch 1896 április 12. Ein vom übrigen Europa aus betrachtet markant unterschiedlicher Ordnungssinn durchweht die Sprache, ein Geist, der stets verdreht. Dabei ist das Ungarische keineswegs umständlich, sondern im Gegenteil stets auf Knappheit bedacht. Wortungetüme kommen vor, weil sich die Grammatik intim an die Worte klammert und dabei auch vor Eigennamen nicht halt macht. "Mit Ildikó" wird zu Ildikóval, "mit Goethe" zu Goethével. Dieses anhängende Prinzip ist sehr ökonomisch: Geld = pénz, mein Geld = pénzem, mit meinem Geld = pénzemmel. So sind ungarische Texte meist erheblich kürzer als ihre Übersetzungen in andere Sprachen.
Bei diesem Hang zur Dichte überrascht, daß noch dazu musikalische Geister den Klang diktieren. Vokalharmonie heißt das Grundgesetz: Helle Vokale vertragen sich nur mit hellen, dunkle lassen sich nur mit dunklen ein. Gyerek = Kind, gyerekek = Kinder, gyerekekkel = mit Kindern, dagegen aber ablak = Fenster, ablakok = (viele) Fenster, ablakokkal = mit Fenstern. Diese gleichzeitige Wirken von Musikalität und Dichte mag ein Grund dafür sein, daß bei den Ungarn in der poetischen Literatur traditionell die Lyrik an einsam führender Stelle steht und sich in ihr die sprachlichen Schätze des kleinen Volkes vor dem Zugriff der Welt verbergen, denn weder der Klang, noch die eigenwillige Dichte ungarischer Verse lassen sich unverletzt in fremde Sprachen übertragen.
Bei der Ökonomie des Ungarischen könnte der Verdacht aufkommen, die Sprache sei systematisch wie ein Computer, seelenlos logisch. Zauberhafte Kräfte der Verben aber verhindern Herzlosigkeit und Kälte, sorgen vielmehr für einen Geist der Beseelung, mit dem die starre Sachwelt immer wieder an die Schönheit der Bewegung und des Fließens erinnert wird. Viele Substantive verwandeln sich widerstandslos in Verben menschlichen Genusses. Tea = Tee wird zu teázni = Tee trinken, kávé = Kaffee zu kávézni = Kaffee trinken, bor = Wein zu borozni = Wein trinken, sör = Bier zu sörözni = Bier trinken, aber auch tehén = Kuh zu tehénkedni = sich wie eine Kuh genüßlich hinlegen, sich hinkuhen sozusagen.
Damit ist die Zauberkraft der ungarischen Verben noch nicht erschöpft. Sie ziehen den Täter in den Wortkörper des Tuns hinein: megyek = ich gehe. Auch die Richtung des Gehens verschmilzt mit dem Verb: elmegyek = ich gehe weg, bemegek = ich gehe hinein. Die größte Verschmelzungsleistung vollbringt das Verb für die Liebenden. Die Begierde, der Begehrende und der Begehrte, alles verfließt zu einem Wort: szeretlek, ich liebe dich. Das Ich steckt im K, das Du im L, die Liebe im szeret, das hintere E bindet ganz in der Musik des Wortes das Du an das Ich, die ewige Trennung von Subjekt, Prädikat, Objekt wird aufgehoben für diesen Sonderfall der Gefühle; ein schöneres Bett läßt sich der Liebe sprachlich nicht bereiten.
So kühn verschmelzend, wie die Verben im Ungarischen sein können, so empfindlich sind sie auch. Haben sie ein bestimmtes Objekt im Auge, dann wechseln sie betroffen ihre Endung. Utálok = ich verabscheue. Verabscheue ich etwas ganz Bestimmtes, das Leben zum Beispiel, dann heißt das Verb anders, nämlich utálom, utálom az életet = ich verabscheue das Leben. Solche sprachlichen Empfindsamkeiten machen das Erlernen des Ungarischen quälend schwer. Wie es den Ungarn beim Fremdsprachenerwerb kaum gelingt, ihren Akzent und andere Eigenarten gänzlich los zu werden, so ist es auch für den Ausländer nahezu unmöglich, das Ungarische in Fleisch und Blut zu übernehmen. Die Sprache ist wie ein Schutzwall, hinter dem die Nation sich mit all ihren Geheimnissen und Eigenarten fest verschanzen kann. Sie taugt im Kampf um eine souveräne Selbstbehauptung mehr als alle Waffen und Gelder dieser Welt.
Johann Gottfried Herder schrieb am Ende des 18. Jahrhunderts über die Ungarn: "Da sind sie jetzt unter Slawen, Deutschen, Wlachen und andern Völkern der geringere Teil der Landeseinwohner, und nach Jahrhunderten wird man vielleicht ihre Sprache kaum finden." Zwei Jahrhunderte haben sie sich nun immerhin schon behaupten können, gegen Herders düstere Prophezeiung, die in Ungarn übrigens so gefürchtet und bekannt ist wie unter den alten Griechen das Schwert des Damokles. Gerade die isolierte Sprache, die Herder für den Schwachpunkt des kleinen, umzingelten Volkes hielt, hat ihre Stärke mit erstaunlichem Trotz beweisen können, sie ist vielleicht sogar das Kernstück der ungarischen Lebensphilosophie des ewigen Trotz-alledem.
Herrscht allgemein in der Sprache eine große Dichte und Logik, so erlaubt sie sich doch gelegentlich verrückte Umständlichkeiten und archaische Trägheit. Der Regen zum Beispiel fällt in Ungarn urväterlich träge, gewichtig und schön: esik az eső, wörtlich übersetzt: Es fällt das Fallende. So schön kann nur eine Sprache regnen. Phänomenal konservativ klammert sich das Ungarische auch an längst überlebte Traditionen. "Hogy tetszik lenni?" "Wie beliebt es zu sein?", so altbacken kann ungarisch die Frage nach der aktuellen Laune lauten. Kein Wunder also, daß der schon erwähnte Handelsvertreter, der vigéc, die bequemere deutsche Variante wählte.
Das konservative Bestehen der Sprache auf umständliche Biedermeiereien kann den Reiz ewiger Verspieltheit haben, es gibt aber durchaus ungarische Sprachverschlafenheiten, die regelrecht bissig sind. Wenn heute der Direktor einer Fabrik seinen würdig ergrauten Fahrer mit János anredet und duzt, er selbst sich von ihm aber in steifster Sie-Form "igazgató úr", "Herr Direktor", nennen läßt, dann schlägt das liebenswert Konservative in unwürdig Reaktionäres um. Alle Reformen und Revolutionen scheinen die Sprachgewohnheiten der Ungarn kaum berührt zu haben. Der bis zur Willkür mächtige Gutsbesitzer vor den Weltkriegen jedenfalls wird mit seinem Kutscher verbal kaum anders umgesprungen sein.
Auch der Handkuß ist ein Überbleibsel der Geschichte. Er hat in Ungarn nichts von seiner habsburgischen Frische eingebüßt, auch sprachlich ist er quicklebendig: "Csókolom a kezét", "Ich küsse ihre Hand". Den Kindern kommt das viele Küssen sehr gelegen; sie küssen verbal sorglos jeden, der ihnen über den Weg läuft. "Csókolom" ist ein freundlich netter Gruß, mit dem man als Kind fast nichts falsch machen kann. Das so freundlich klingende Wort muß aber nicht immer freundlich gemeint sein. Ein restlos entnervter Gast kann zum Beispiel auch ganz hart "Csókolom, csókolom!" rufen und damit unhöflich einer heillos überforderten Kellnerin zu verstehen geben, daß er nun endlich zahlen will. So ein Kuß kann dann ganz fürchterlich klingen, etwa wie im Deutschen: "Nun kommen Sie doch endlich, verflucht noch mal!"
Wie das archaische Urgeröll in der ungarischen Sprache liebevoll oder aber auch stickig sein kann, so ist die Tendenz zur Versüßlichung ebenfalls zweigesichtig. Eltern taufen ihre Kinder vergeblich István oder Margit, Stefan oder Margarete, denn gerufen werden sie so in Ungarn nie und nimmer, allenfalls beim Verhör auf dem Polizeipräsidium. Aus István wird Pista, und, weil das A als Endung noch viel zu hart ist, Pisti, und da das noch zu groß klingt, kommt es zu der Verkleinerungsform Pistike, und weil das wiederum zu unpersönlich klingt, heißt der Arme schließlich Pistikém. Im Deutschen entspricht dem etwa "mein kleines, süßes Stefanchen!" Was sprachlich so klein und niedlich klingt, kann im realen Leben durchaus gestandene sechzig Jahre alt sein. Der Margit geht es um keinen Deut besser. Sie wird aus lauter Liebe zu Gitta (Grete) verkleinert, dann zu Gitti (Greti), endlich zu Gittikém (Gretichen).
Zu den problematischen Seiten der Sprache gehören sicher auch Gruß und Anrede, die regelrecht quälen können, weil oft unter den verschiedenen Sie-Formen die richtige nur schwer zu finden ist und die Du-Form zu vertraulich klingt. Ein sprachlicher Krampf legt sich leicht über manche Begegnung, die sprachlos vielleicht ganz angenehm zu werden versprach. Es fehlt einfach das Pendant zur im Deutschen üblichen Anrede mit Herr und Frau. Da weicht man verlegen auf Berufsbezeichnungen aus und kommt vor lauter Ausweichmanövern nicht mehr zu dem, was man eigentlich unbedingt hätte sagen mögen. Diese gelegentlichen Unbeholfenheiten werden die ungarische Sprache kaum daran hindern, ihren wuchernden Organismus vielzüngig weiterzuentwickeln. So kompliziert kann die Welt gar nicht werden, daß sie dem Ungarn die Sprache verschlüge.
(Willhelm Droste, Artikel aus dem Pester Lloyd 1987)
„… nincs mindenre szó, csak az van, amikre szó van, de mégis, néha van szó, azután még sincs semmi.“ (Esterházy Péter)